INHALT
- Prolog
- Ein „Revolutionär“ zur rechten Zeit
- Von amerikanischen Parallelwelten...
- ...und dem Ende der Bescheidenheit
- Die revitalisierte Liebe der Linken zu ihrer Nationalmannschaft
- Epilog
- MP3
PROLOG
Fußball ist ohne Zweifel en vogue, angesagt, hip und sexy. Nicht nur, aber auch in Deutschland und vor allem, seit die Weltmeisterschaft immer näher rückt. Die Bundesliga schreibt Jahr für Jahr neue Rekordbesucherzahlen, die TV-Einschaltquoten erreichen Höchststände, und längst ist dieser Sport — mehr als alle anderen — zu einem wichtigen Marktsegment geworden; aus Vereinen wurden teilweise börsennotierte Unternehmen. Fußball ist eine sehr gut verkaufte und sich bestens verkaufende Ware, die sich einen immer größer werdenden Konsumentenkreis erschließt. Während das Interesse am Kicken noch bis weit in die 1990er Jahre hinein als eher anrüchig, degoutant und prollig galt, hat sich die Gesellschaftsfähigkeit des Fußballs inzwischen gründlich geändert: Heute ist der Stadionbesuch eine echte Alternative zu Theater, Kino, Konzerten oder Musicals; auf den (teurer gewordenen) Plätzen der (mittlerweile deutlich komfortableren) Arenen versammeln sich längst nicht mehr nur als mindestens potenziell gewalttätig geltende Männer. Fußballer sind Popstars, deren Trikots vom geneigten Publikum nicht bloß im Stadion getragen werden; Fernsehsender balgen sich um die Übertragungsrechte und blasen, genau wie bunte Illustrierte mit Namen wie 11 Freunde, Rund oder Player, noch die unwichtigsten Abseitigkeiten zu weltbewegenden Ereignissen auf. Ganz normaler Kapitalismus also, könnte man achselzuckend feststellen und zur Tagesordnung übergehen. Und doch ist es nicht uninteressant, sich diese Entwicklungen samt ihrer konkreten Ausprägungen einmal näher anzuschauen und sie auf ihre ideologischen Flankierungen abzuklopfen.
Denn insbesondere vor großen Turnieren der deutschen Nationalmannschaft nimmt das Getöse rund um die angeblich bloß schönste Nebensache der Welt massiv zu. Und da die WM auch noch hierzulande ausgetragen wird, erhält sie erst recht den Rang einer nationalen Pflichtveranstaltung. Schließlich sind „wir“ nicht nur Papst, sondern auch Deutschland und wollen daher natürlich Weltmeister werden — cui honorem, honorem; Ehre, wem Ehre gebührt. Als des Deutschen liebstes Kind jedoch vor anderthalb Jahren bei der Europameisterschaft schon nach der Vorrunde sang- und klanglos die Segel streichen musste und sich schließlich auch noch der zärtlich „Tante Käthe“ gerufene Teamchef Rudi Völler vom Acker machte, brach die nackte Panik aus: Das kickende Personal präsentierte sich alles andere als weltmeisterlich, und über die eilends einberufene Trainerfindungskommission und ihre hektischen Versuche, einen geeigneten Übungsleiter für die Eliteauswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) aufzutun, wurden Kübel voll Hohn und Spott ausgegossen. Selbst die DFBFührungsriege zerstritt sich und versuchte, ihre Krise durch die Installation einer „Doppelspitze“ zu meistern; seitdem präsidiert neben dem deutschnationalen Gerhard Mayer-Vorfelder auch der hemdsärmelige Rheinland-Pfälzer Theo Zwanziger. Zu allem Übel folgte noch der so genannte Wettskandal um den Schiedsrichter Robert Hoyzer. Sieger sehen anders aus.
EIN „REVOLUTIONÄR“ ZUR RECHTEN ZEIT
Das konnte, nein, das durfte selbstverständlich nicht so bleiben, wenn das große Ziel, auch im Fußball wieder zu Weltgeltung zu kommen, nicht gefährdet werden sollte. Und so präsentierte der DFB, nachdem er sich wochenlang Absage um Absage eingehandelt hatte, schließlich einen neuen Bundestrainer: Jürgen Klinsmann. Der stand zwar in dem Ruf, eigentlich ein intellektuelles Weichei, ein Querkopf und national eher unzuverlässig zu sein — schließlich lebt er schon seit Jahren in den USA —, aber mit seinem Namen verband man auch Erinnerungen an die goldenen 1990er Jahre, in denen Deutschland erst „wiedervereinigt“, dann Welt- und schließlich auch Europameister geworden war. Dennoch schwante Fußballfans wie Medien Böses, und nicht bloß, weil Klinsmann ungefähr zehnte Wahl war: Die „Amerikanisierung des deutschen Fußballs“ drohe, fand nicht nur die Tageszeitung Die Welt. Ein Nationalcoach, der nicht wieder nach Deutschland ziehen, dazu noch Mental-, Fitness- und Ausdauertrainer mit aus „den Staaten“ bringen und überhaupt alles umkrempeln will — das ging eigentlich gar nicht. Ein „Visionär“ (so Die Zeit), der alles rosa sieht und aus Scheiße Gold zu machen verspricht — da hatte einer offenbar schon die typisch amerikanische Oberflächlichkeit inhaliert, was ihn für den Posten des Retters des deutschen Fußballs zu disqualifizieren schien. Man hatte Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit, beäugte misstrauisch den großen Stab an Spezialtrainern, Psychologen und Betreuern und legte die Stirn in Falten, als gestandene Nationalspieler plötzlich grotesk anmutende Übungen mit langen Gummibändern verrichten mussten. Selbst Klinsmanns Vorgänger Völler hegte Zweifel: „Ich habe ihm gesagt, mach’ das so, wenn du davon überzeugt bist. Mit der Amerikanisierung und das alles.“ (dpa-Meldung)
Doch die größten Zweifel schwanden recht bald — vorerst wenigstens —, und es mehrten sich stattdessen die Stimmen, die Klinsmanns sonnigen Optimismus und seine innovativen, radikal anmutenden Vorschläge begrüßten — in Deutschland werde schließlich viel zu viel gemeckert und viel zu wenig einfach angepackt; da komme so ein „Revolutionär“, wie Die Zeit ihn nannte, gerade recht: „Jürgen Klinsmann kommt aus Amerika, wo vieles auch nicht so gut läuft. Aber er hat gelernt, so zu tun, als sei alles gut, und das versucht er zu vermitteln“, fasste etwa Bayern-Manager Uli Hoeneß die Vorzüge des Neuen zusammen und empfahl dabei gleichzeitig eine Nutzbarmachung des antiamerikanischen Ressentiments für die eigenen Zwecke. Der „polyglotte Sonnyboy mit Wohnsitz Kalifornien“ (Die Welt) passte mit seinem flockigforschen Auftreten also bestens zur neuen deutschen Unbeschwertheit und personifizierte geradezu idealtypisch einen Ausweg aus der vorgeblichen „gesellschaftlichen Erstarrung“ und dem behaupteten „Reformstau“: Er verhieß „Aufbruchstimmung“ (so der damalige Manager von Borussia Dortmund, Michael Meier), brachte „positive Energie“ (DFB-Präsident Zwanziger), und sein Appell an das Selbstvertrauen und den Glauben an die eigene Stärke kam nicht nur bei den Nationalspielern an. Das Projekt FC Deutschland 2006 machte Fortschritte. Klinsmann verordnete seinen Kickern „aggressiv-rote Trikots“ (Die Welt) und verlegte das WMDomizil der deutschen Auswahl gegen den erklärten Willen der DFB-Führung weg vom beschaulichen Leverkusen hinein in die Hauptstadt: „Berlin ist in Deutschland die Stadt schlechthin, das ist eine Metropole, da ist Energie, das pulsiert. Die Quartierwahl soll unser Selbstbewusstsein ausstrahlen“, ließ der Chefcoach wissen.
Nicht nur dafür erhielt er herzlichen Applaus von den Medien und der Politik. „Alle sollten seine Entscheidungen respektieren und ihn bei seinen Vorbereitungen auf die WM mit allen Kräften weiterhin unterstützen“, befand beispielsweise Ex-Innenminister Otto Schily. „Das Land sammelt sich hinter dem Hoffnungsträger für 2006“, beschrieb Die Welt im Dezember 2004 die neue gesellschaftliche Formierung und staunte: „Das Merkwürdige ist, dass der Bundestrainer, obwohl er die Fußballnation zahlreicher Gewohnheiten beraubt, immer mehr Anhänger gewinnt. Während Bundeskanzler Gerhard Schröder bei jeder Ankündigung einer Neuerung an Zustimmung in der Bevölkerung verliert, sind Klinsmanns Kritiker verstummt. Je energischer der Bundestrainer sein Projekt 2006 vorantreibt, desto geringer wird der Widerspruch.“ Doch nichts lässt den kranken Volkskörper schneller gesunden als die Aussicht auf eine gold’ne Zukunft Deutschlands: „Der wesentlichste Grund für die größere Akzeptanz der Reformen des Fußball-Kanzlers gegenüber seinem Pendant in der Politik ist allerdings die schnellere Wirkung der von Klinsmann verabreichten, manchmal bitteren Medizin. Während Schröders Hartz-IV-Gesetze ihre heilsamen Effekte erst auf lange Sicht entfalten werden, kann Klinsmann bereits auf Resultate verweisen. In [den ersten] vier Spielen unter seiner Regie fuhr er in imponierender Weise drei Siege ein, gegen Weltmeister Brasilien langte es zu einem respektablen Remis.“
VON AMERIKANISCHEN PARALLELWELTEN...
Dennoch ist das Vertrauen in den „hoch intelligenten Systematiker“ (Die Zeit) immer noch und immer wieder ziemlich brüchig. Während des — reichlich unbedeutenden — Confederations Cup vergangenen Sommer verzeichnete Fußball-Deutschland zunächst ein Stimmungshoch, als die naiv-unbedarfte Boygroup „Schweini & Poldi“ ausgiebig als neue deutsche Hoffnungsträgerin gefeiert wurde: Die beiden Spieler nähmen „der Nationalmannschaft etwas von ihrem staatstragenden Ernst“, freute sich zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung. Doch nach mehreren dürftigen Ergebnissen gegen zweit- und drittklassige Gegner folgte der Kater, und mit ihm kehrten die Attacken gegen den „schwäbischen Sturkopf“ (Die Zeit) zurück: „Der soll nicht ständig in Kalifornien ’rumtanzen und hier uns den Scheiß machen lassen. Er muss sich mit uns unterhalten und muss öfter hier sein, das ist alles“, keifte beispielsweise Uli Hoeneß. Auch Die Zeit glaubte, Klinsmann in einer „amerikanischen Parallelwelt“ verorten zu müssen, und machte sich Sorgen: „Kopfschüttelnd blickten die Fans Klinsmann hinterher. Selbst wohlmeinende Kommentatoren fürchteten auf einmal ein gestörtes Verhältnis des Bundestrainers zu seinem Job. Seit mittlerweile 18 Monaten im Amt, gibt der Coach der deutschen Öffentlichkeit immer wieder Rätsel auf. Selbst enge Vertraute gestehen, den Freund nicht wirklich gut zu kennen.“
Das bildungsbürgerliche Wochenblatt gab aber gleichzeitig Entwarnung: „Bei Klinsmann entscheidet der bessere Sprintwert und nicht der Kumpelfaktor. Das Zauberwort heißt Effizienz. Damit passt Jürgen Klinsmann in das neue Deutschland mit seiner Großen Koalition der Pragmatiker. Auch im Profifußball beginnt die Dämmerung der Ideologen, der schwitzigen Männerbünde und feucht-fröhlichen Mannschaftsabende. Volksnähe ist trotz aller Logen zwar noch gewünscht, die Fraternisierung mit der Basis wird [aber] als anachronistisch empfunden.“ Letztere grummelt darob durchaus vernehmlich und ist ihrem Führungspersonal gelegentlich gar gram, doch das ähnelt mehr dem Verhalten enttäuschter Liebhaber als es einen ernsthaften Einwand begründen würde. Zwar schlummern klassischer Deutschnationalismus und Pogrompotenzial nach wie vor in den Deutschen, aber sie werden seit dem rot-grünen Antifa-Sommer 2000 längst nicht mehr so häufig abgerufen wie noch zu Beginn der 1990er Jahre, übrigens auch nicht in den Fußballstadien. Inzwischen hat sich ein „nationaler Nie-wieder-Konsens“ etabliert (so Tjark Kunstreich), der keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit mehr fordert, sondern Nazis hässlich findet, die Debatte um den Nationalsozialismus beständig perpetuiert und die „Vergangenheitsbewältigung“ zum Exportschlager gemacht hat. Der „Pisser von Rostock“ taugt — anders, als es etwa die Zeitschrift konkret, aber auch die Veranstalter des heutigen Abends glauben — zumindest im Moment nicht zur Bebilderung dessen, was kritische Geister etwa hinter der Kampagne Du bist Deutschland vermuten. Denn die Staatsräson gebietet derzeit etwas anderes als das Abfackeln von Ausländern. Man konnte das recht eindrucksvoll etwa am 8. Mai des vergangenen Jahres, also am Tag der Befreiung, beobachten, als die Polizei die Teilnehmer einer Demonstration gegen einen zuvor genehmigten Naziaufmarsch geradezu anbettelte, die faschistische Manifestation doch bitte per Sitzblockade oder Ähnlichem zu behindern: Die Bilder von den anständigen, geläuterten Deutschen gingen anschließend um die Welt.
...UND DEM ENDE DER BESCHEIDENHEIT
Das, was Die Zeit als „große Koalition der Pragmatiker“ und „Dämmerung der Ideologen“ bezeichnet, übersetzt sich demnach in eine neue deutsche Unbefangenheit von Volk & Führung: Man wähnt sich mit sich und der Geschichte in Frieden und geht daher längst daran, die Weltenübel unverhohlen beim Namen zu nennen: Die kriegsgeilen und kulturell minderwertigen Amis bekommen die Leviten gelesen, und auch von den frechen Juden lässt man sich schon lange nichts mehr vorhalten. Beiden posaunt man millionenfach ein entschlossenes und selbstbewusstes „Nie wieder Krieg!“ entgegen — und dazu ein „Nie wieder Faschismus!“, wenn im Kosovo hufeisenförmige Konzentrationslager entdeckt werden —, findet in Bagdad die Reinkarnation des „alliierten Bombenterrors“, sieht in Bush und Sharon die Wiedergänger Adolf Hitlers, verurteilt pflichtschuldig zwar Antisemitismus, lässt Antisemiten aber gewähren und tarnt die eigenen Ressentiments als vorgeblich legitime „Israel-Kritik“, begeistert sich für autochthone Völker und hält Kulturrelativismus für praktizierten Antirassismus. Kurz: Die Deutschen wachsen wieder über sich hinaus, finden zu sich selbst und applaudieren begeistert ihrem — inzwischen ehemaligen — „Friedenskanzler“, wenn der ganz offensiv einen „deutschen Weg“ proklamiert und den Juden nun auch das größte Denkmal der Welt hingestellt hat, nachdem seine Landsleute zuvor den größten Völkermord der Geschichte ins Werk gesetzt haben. Die „Stelenspringer“ künden von der neuen Unbeschwertheit der Deutschen im Umgang mit ihrer Vergangenheit, und es ist deshalb ein Jammer, dass nicht der Vorschlag des Journalisten Hannes Stein angenommen wurde, der in der Welt gefordert hatte: „Nicht 2000 stilisierte Grabsteine hätten in Berlin zu stehen, sondern 2000 Galgen, wie sie nach den Nürnberger Prozessen Verwendung fanden, meinetwegen hübsch in Messing gegossen. Und unter jedem von ihnen müsste eine Plakette mit dem ausführlichen und exemplarischen Lebenslauf eines jener Massenmörder angebracht sein, wie sie nach dem Krieg zu Tausenden ungestraft herumliefen.“
Stattdessen ist das Ende der Bescheidenheit angesagt, und daher passt einer wie Klinsmann bei aller Kritik — dazu später mehr — wie der sprichwörtliche Arsch auf den Eimer. Letztlich ist für ihn alles vor allem eine Frage des Willens, weniger der realistischen Möglichkeiten, und das hört man hierzulande immer gerne, auch wenn man weiß, dass eine maßvollere Zielvorgabe eigentlich ratsam wäre — doch die würde die Euphorie nur unnötig bremsen; schließlich kann nicht sein, was nicht sein darf. Zwar verdächtigt man Klinsmann immer wieder, ein „Fremder“ zu sein und im Vergleich zu seinem Vorgänger Völler zu wenig street credibility zu haben. Die Zeit etwa behauptete allen Ernstes: „Als Vertreter einer neuen Rationalität ähnelt Klinsmann der Kanzlerin Angela Merkel, von der es heißt, dass sie vom Volk nicht wirklich geliebt werde, weil sie ihrerseits das Volk nicht wirklich liebe.“ Doch das ist falsch. Das Blatt korrigierte sich — gewiss eher unfreiwillig — gleich im darauf folgenden Absatz: „Als Jürgen Klinsmann kürzlich wieder einmal in Frankfurt einschwebte, wurde er von einem Mann angesprochen. ‚Herr Klinsmann’, sprach dieser energisch, ‚lassen Sie sich nicht von Ihrem Weg abbringen. Das Volk steht hinter Ihnen.’“ (Das bekam bekanntlich auch schon Gerhard Schröder im Zuge der Demonstrationen gegen den Irak-Krieg zu hören.) Und dann: „Was der Bundestrainer bei diesen Worten empfand, ist nicht überliefert. Zeugen der Begegnung wollen jedoch eine gewisse Genugtuung in seiner Miene beobachtet haben.“
Kein Grund zur Panik also — auch wenn echten Deutschland-Fans das „Klinsi“, zumal im Moment, immer noch viel schwerer über die Lippen kommt als das „Ruuudi“ bei seinem Amtsvorgänger — und kein Anlass zu Fragen wie der, ob man „in Klinsmann wirklich den großen Reformator des deutschen Fußballs sehen“ soll oder doch nur „einen ehrgeizigen Anfänger, der Spieler und Öffentlichkeit mit Reizen überflutet und dessen ambitionierte Amerikanisierung mehr Schein als Sein darstellt“ (Die Welt), der uns also alle bloß arglistig täuscht und hinterher wieder über den großen Teich entschwindet. Sondern vielmehr Anreiz, des nationalen Übungsleiters „Lebensphilosophie des proaktiven Optimismus“ (wiederum Die Welt) zu teilen und fest an eine Wiederholung des Rührstücks „Das Wunder von Bern“ zu glauben.
Aktuell ist dieser Glaube allerdings erneut starken Schwankungen unterworfen und hat einer gewissen Hysterie Platz gemacht. Knapp drei Monate vor dem Eröffnungsspiel gegen Costa Rica durchlebt der deutsche Fußball nämlich eine handfeste Krise: Die Stiftung Warentest hat sich unlängst beinahe des Vaterlandsverrats schuldig gemacht, als sie Sicherheitsmängel an den WM-Arenen feststellte. Deutsche Klubmannschaften spielen international keine Rolle, Klinsmanns Truppe stümpert kläglich durch die Vorbereitungsspiele, ihre Geschlossenheit steht in Frage, nachdem Verstoßene wie Christian Wörns ihrer Enttäuschung Luft gemacht haben, und in der Öffentlichkeit heißt es lautstark: Papa soll entweder nach Hause kommen, zur deutschen Fußballvolksgemeinschaft, Verzeihung: -familie, oder „go home“, wie es die Frankfurter Rundschau verlangt. Der Kaiser mischt sich in die Aufstellung ein, ein neuerlicher Wettskandal schwelt zumindest schon, und prominente Ehemalige wie der Intelligenzbolzen Stefan Effenberg fordern in großen Boulevardblättern die Ablösung Klinsmanns durch den in Ehren ergrauten Grandsigneur Ottmar Hitzfeld. Für das Sahnehäubchen sorgten jedoch Anfang dieses Monats drei Bundestagsabgeordnete, die den Bundestrainer allen Ernstes vor den Sportausschuss des Bundestages zitieren wollten. Eine davon war die FDP-Abgeordnete Miriam Gruß, die meinte, Klinsmann möge einmal „sein Konzept erklären, denn es geht ja nicht nur darum, ob eine Mannschaft mal schlecht spielt, sondern um die Frage: Wie präsentiert sich Deutschland“. Das Ansinnen der drei Volksvertreter wurde zwar zurückgewiesen, aber es hat noch einmal unterstrichen, wie groß die Panik hierzulande ist, dass es mit dem versprochenen Weltmeistertitel nichts werden könnte. Klinsmann hat es immer schwerer, sich mit seinem Alles-in-Butter-Habitus auch durchzusetzen, vulgo: glaubwürdig zu wirken — darauf legt man in Deutschland bekanntlich besonders großen Wert.
DIE REVITALISIERTE LIEBE DER LINKEN ZU IHRER NATIONALMANNSCHAFT
Wie sehr die Weltmeisterschaft in Deutschland und der avisierte Titelgewinn ein wahrhaft nationales Projekt ist, lässt sich übrigens auch daran gut erkennen, dass auch die Linken ihre Liebe zur Nationalmannschaft (wieder-) entdeckt haben und vermuten lassen, dass ihre Jahrzehnte lang demonstrativ gepflegte Abneigung gegen die schwarzrot-goldene Auswahl und ihre Anhänger eine bloße Attitüde war, die aus einer unerfüllten Liebe infolge grausam anzusehender Länderspiele und sich übel benehmender Landsleute resultierte. In dem Maße, wie sie maßgeblich den postnazistischen „Nie-wieder-Konsens“ befördert haben, haben sie auch die DFBKicker und vor allem ihren Trainer längst ins Herz geschlossen. Denn Klinsmann bringt so ziemlich alles mit, was des Linken Herz begehrt: Er ist nicht so bräsig und peinlich wie etwa der von der verhassten BILD-Zeitung ursprünglich favorisierte Lothar Matthäus, sondern weigert sich, sein Privatleben im Boulevard auszubreiten; er kommt intellektuell rüber, spricht mehrere Sprachen und ist weltgewandt; er macht sich nicht mit dem grölenden Mob gemein, genießt aber trotzdem einen gewissen Kultstatus und hat als Bäcker sogar noch einen proletarischen Beruf erlernt. Selbst über die deutsche Geschichte macht Klinsmann sich Gedanken, und er weiß, was er beizeiten zu tun und zu sagen hat, wie etwa 1997 — damals noch als Spieler — in der Gedenkstätte Yad Vashem („Es kam das Gefühl von Verantwortung hoch, dass wir die Aufgabe haben, dabei mitzuhelfen, dass so etwas nie wieder passiert“) oder als Mitglied im Beirat des Vereins Für die Zukunft lernen - Verein zur Erhaltung der Kinderbaracke Auschwitz-Birkenau e.V. (Zitat aus einem Grußwort: „Die Konfrontation mit der Geschichte habe ich als Spieler der Deutschen Nationalmannschaft bei Länderspielen in Polen wie auch in Israel erlebt. Beide Begegnungen waren und sind für unsere Völkerverständigung von unschätzbarem Wert.“) Kurz: Klinsmann steht für das „bessere“, das postnazistischgeläuterte Deutschland.
Und er bekommt den verdienten publizistischen Flankenschutz von links. 11 Freunde etwa — längst vom subkulturellen und durchaus kritischen Fanzine zum auflagenstarken Intellektuellen-kicker aus dem Hause Intro aufgestiegen und das Zugpferd der neuen Vierfarb-Fußball-Illustrierten — stimmt nach anfänglichen Zweifeln mittlerweile in die „Klinsmania“ ein. Und ihr prominenter Kolumnist Christoph Biermann — außerdem tätig für diverse Tageszeitungen sowie als Buchautor — bekannte in der taz freimütig, dass seine, wie er es formulierte, „Schwierigkeit, Anhänger der deutschen Fußball-Nationalmannschaft zu sein“, eher eine Jugendsünde war: „Zur ordentlichen Biografie eines jungen Bundesrepublikaners der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts gehörte es [...], mit Deutschland und seinen kickenden Protagonisten zu brechen. Dazu brauchte man sich nicht einmal zu fragen, ob man nach Auschwitz noch ‚Deutschland vor, noch ein Tor!’ rufen durfte, schließlich wurde im dunklen Zeitalter unter Jupp Derwall so schauderhaft Fußball gespielt, dass man sich leicht von Deutschland lossagen konnte.“ Doch Adorno ist sowieso schon lange tot und vergessen. Noch einmal Biermann: „Im Laufe der Jahre entspannte sich meine Deutschlandphobie. Den Jubel über den WMSieg 1990 sah ich auch nicht als nationalistischen Ausbruch, sondern als Ausdruck einer neuen Feierkultur (!), auch gegen den EM-Sieg sechs Jahre später in England hatte ich nichts weiter einzuwenden.“ Und „seit Jürgen Klinsmann ordentlich durchgelüftet hat“, sind auch die letzten Bedenken gewichen: „Zwar ist um ihn mitunter arg viel Sound of Neoliberalismus“ — typisch amerikanisch eben —, „aber man kann ihn halt beim Wort nehmen und schauen, ob all die schwungvollen Vorgaben wirklich eingelöst werden oder nicht. Zuletzt hat die deutsche Mannschaft eher Spaß gemacht“, selbst wenn „deutsche Länderspiele Versammlungen der Allerblödesten“ seien, weil auf den Rängen „provinzielle Lethargie“ herrsche und der Deutschlandfan „bespaßt“, d.h. unterhalten werden wolle, was für einen wie Biermann offenbar besonders verwerflich ist, wenn es um Höheres und Wichtigeres geht — nämlich um Deutschland.
Jenseits solcher Bekenntnisse sorgen sich besonders engagierte Fans derweil darum, dass sie vom nationalen Projekt Weltmeisterschaft ausgeschlossen bleiben könnten. Das Bündnis Aktiver Fußball-Fans (BAFF) etwa freut sich zwar darüber, „zu einem viel gefragten Ansprechpartner für die Medien und staatliche Institutionen“ geworden zu sein, beklagt aber eine schleichende Zerstörung des „Volkssports Fußball“ im Allgemeinen und einer „gewachsenen Fankultur“ im Besonderen durch „Kommerzialisierungswut“, „Repression“ und „Versitzplatzung“: „Der Fußball verliert so seine Vielfalt und entwickelt sich Schritt um Schritt zum reinen Medienspektakel.“ Schuld daran hätten die „Seelenverkäufer in den Chefetagen“, denen „das liebe Geld und der totale Kommerz zu Kopf gestiegen“ seien. Konsequenter Weise versinnbildlicht das BAFF auf einem zum Verkauf angebotenen T-Shirt daher auch diese Feinde des Fußballs, die das schöne Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ leider ad absurdum führen und das ganz große Volksfest sabotieren: Dominiert wird das Textil, dessen Aufmachung eine Verfremdung des offiziellen WM-Logos ist, durch einen behelmten Polizistenkopf und einen grimmig drein schauenden Anzugträger mit Zigarre (der der klassischen Darstellung von „Bonzen“ auf linken Plakaten nachempfunden ist), während der „echte“ Fan erfasst und hinter Gitter gesperrt wird.
Das Ganze atmet durchweg den Geist typischer Antiglobalisierungsproteste. Man klagt über den Verlust eines — vermeintlichen — Biotops und fühlt sich von kafkaesken Bürokraten ums Vergnügen betrogen, obwohl man doch so konstruktive Vorschläge für das große Ganze macht und einfach nur dazu gehören will. Dass auch der Fußball längst ein lohnendes Marktsegment ist und daher kapitalistischer Rationalität folgt — mithin nun mal einen Teil des falschen Ganzen darstellt —, kommt dem BAFF nicht in den Sinn. Der berechtigte Ärger über exorbitant teure Eintrittskarten, eine absurde Datenerhebung und die peinliche Ticketvergabepraxis übersetzt sich stattdessen in eine ressentimentgeladene Attacke gegen „die da oben“, die dem Volk absichtlich seinen Spaß versauen, das — nirgendwo verbriefte — „Recht auf Fußball“ nehmen und lieber unter sich sein wollen.
Solcherlei Empörung dürfte ihren Grund auch darin haben, dass das BAFF seine Verdienste nicht genügend gewürdigt sieht. Jahrelang haben dessen Aktivisten im Verbund mit antirassistischen Fanklubs dafür gekämpft, die Nazis aus den Stadien fernzuhalten. Eine gute, wichtige und notwendige Initiative, gar keine Frage — vor allem Anfang der 1990er Jahre war es bei Bundesligaspielen nicht auszuhalten, von Länderspielen ganz zu schweigen. Letztlich waren die ganzen Bemühungen durchaus erfolgreich: So ziemlich jeder Verein hat in seiner Stadionordnung inzwischen festgelegt, dass rassistische und antisemitische Manifestationen — sei es in Form von Hassgesängen, sei es in Form von Transparenten oder Fahnen — mit einem Hausverbot geahndet werden. Und in der Tat hat sich die Atmosphäre in den Arenen gebessert, ohne dass damit gesagt werden soll, es sei schon alles gut.
Der Grund für diese Veränderung liegt allerdings nicht in erster Linie beim BAFF. Vielmehr hat sich die Staatsräson gewandelt, wie bereits gesagt; das aggressivnationalistische und xenophobe Treiben hässlicher Deutscher ist mittlerweile in vielerlei Hinsicht kontraproduktiv und überdies geschäftsschädigend. Die neue Konsumentenschicht wünscht entspannte und komfortable Unterhaltung, und da stören die Nazis doch sehr. Also hält man sie draußen — nicht ohne diesen Schritt als Ausdruck gestiegenen Geschichtsbewusstseins zu verkaufen: Man tut das Ganze also für Deutschland. Doch das BAFF und die sich progressiv dünkenden Fanvereinigungen haben diese Entwicklung offenkundig nicht verstanden. Prinzipiell ist ohne Zweifel zwar nichts dagegen einzuwenden, auch noch die letzten rechtsradikalen Vollidioten auf Distanz zu bringen. Doch wenn man dabei — egal, ob gewollt oder nicht — an der Legende vom „anderen“ und „besseren“ Deutschland mitstrickt, das inzwischen einen aufgeklärten Umgang mit seiner Geschichte pflege, geht es einem wie den schon erwähnten Demonstranten am 8. Mai 2005: Man spielt Hilfspolizei, statt die Kritik auf den gewandelten Staatsauftrag zu fokussieren und deutlich auszusprechen, worum und gegen wen es eigentlich geht, wenn Läuterung und neue Unbeschwertheit ausgerufen werden.
EPILOG
Am Ende dürfte aber ausnahmsweise einmal Franz Beckenbauer Recht haben: „Entscheidend wird doch sein, wie das deutsche Team bei der WM abschneidet.“ Falls der — glücklicherweise ziemlich unwahrscheinliche — Fall eintreten sollte, dass dessen „Spielführer“ (so heißt der Mannschaftskapitän in Deutschland — sicher nicht zufällig — ganz offiziell) den Pokal in den Berliner Nachthimmel stemmen darf, wird man landauf, landab Klinsmann doch noch als neue Lichtgestalt feiern und dankbar sein wie dereinst für die Care-Pakete. Andernfalls jedoch wird man ihn mit Schimpf und Schande davonjagen und sich als Opfer eines amerikanischen Luftikus’ fühlen, den man niemals hätte gewähren lassen dürfen. Die aktuellen Attacken gegen ihn erscheinen in diesem Zusammenhang gleichsam als Vorbereitung auf den worst case, also ein peinlich frühes Ausscheiden: Man hätte dann einen Schuldigen und es im Grunde ohnehin schon immer gewusst.
Für alle diejenigen, die gerne Fußball gucken und sich trotz Deutschland-Hype und medialem Overkill auf die Weltmeisterschaft freuen, habe ich einen guten Tipp: Go England! Die spielen ein gepflegtes Bällchen und haben außerdem vor knapp vierzig Jahren im Verbund mit einem Schweizer Schieds- und einem sowjetischen Linienrichter dafür gesorgt, dass der Pokal endlich mal dahin wanderte, wo er hingehört, auch wenn man hierzulande immer noch durchdreht, sobald das Gespräch auf das so genannte Wembley-Tor kommt. Darüber hinaus singen die englischen Fans einfach am schönsten. Und wer nicht bloß zuschauen, sondern sich auch subversiv engagieren möchte, möge sich zu den Anhängern der Three Lions gesellen und dafür sorgen, dass der englische Fußballverband mit seiner an die Fans gerichteten Bitte scheitert, das Lied Ten German Bombers im Gastgeberland nicht zu intonieren. Im Rheinland schmettert man zu Karneval: „Eschte Fründe stonn zesamme.“ United we stand — das wäre doch mal was!
ALEX FEUERHERDT
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