"Rudolf Heß - Märtyrer des Friedens": unüberhörbar hallte die geschichtsklitternde Parole durch das kleine oberfränkische Provinzstädtchen Wunsiedel. Über 4500 Nazis aus ganz Europa waren am 21. August 2004 in die Stadt gepilgert, in der sich das Grab des ehemaligen Hitler-Stellvertreters befindet - ein trauriger Höhepunkt in der Reihe der Heß-Gedenkmärsche.
Nachdem sich Rudolf Heß am 17. August 1987 im Kriegsverbrechergefängnis Berlin-Spandau das Leben nahm, entwickelte sich sein Todestag zum alljährlichen "jour fixe" der deutschen und europäischen Nazi-Szene. Marschierten im Jahr 1990, im Taumel neuer deutscher Großmachtsphantasien, 1100 Jung- und Altnazis in Wunsiedel, wurden die Aufmärsche zwischen 1991 und 2000 in Wunsiedel gerichtlich verboten. Deshalb versuchten die Nazis ihre Gedenkveranstaltungen in anderen Städten durchzuführen, die Aufmärsche verloren allerdings langsam immer mehr an Bedeutung.
Doch im Kontext eines breiten gesellschaftlichen Konsenses, mit dem "Aufstand der Anständigen" im Sommer 2000 dem Antifaschismus zu Genüge gehuldigt zu haben und sich endlich wieder einer "unverkrampften" Liebe zum Vaterland hingeben zu können, wurden offen zur Schau getragene nationalsozialistische Anschauungen nun wieder mit schweigendem Nicht-Interesse bedacht. Und so mag es kaum verwundern, dass die Heß-Märsche in Wunsiedel seit 2001 erneut erlaubt wurden.
In den letzten vier Jahren hat sich der Gedenkmarsch in Wunsiedel zweifellos zu einem der größten und wichtigsten Events der europäischen Naziszene entwickelt. Würstchenbuden und Liedermacher, gemeinsames Erinnern an die "Heldentaten" der Großväter und Trauer um ihren "Friedensflieger" Rudolf Heß: Geschichtsrevisionismus und offene Sympathiebekundungen für den Nationalsozialismus eingepackt in ein Happening mit dem Charakter eines Volksfestes, bei dem sich junge und alte Nazis aus Deutschland, Tschechien, Österreich und Italien beim Verzehr ihrer Bratwurst kennen lernen und wiedertreffen können.
Die Entwicklung der TeilnehmerInnenzahlen spricht eine allzu deutliche Sprache über die Beliebtheit des Wunsiedel-Treffens: Waren es 2001 noch etwa 800 FaschistInnen, hat sich deren Zahl bis 2004 mehr als verfünffacht. Und sollte es nach den Vorstellungen des Nazi-Anwaltes Jürgen Rieger gehen, wird sich daran bis mindestens 2010 auch nichts ändern. Bis dahin nämlich hat Rieger sich und seiner Nazigefolgschaft die bayrische "Festspielstadt" für das Heß-Gedenken reserviert.
So groß die Bedeutung der Heß-Märsche für die Neonaziszene, so erschreckend gering der antifaschistische Widerstand. Hatten sich 1990 noch 2500 AntifaschstInnen dem braunen Mob entgegengestellt, traten in den Jahren seit 2001 nur noch vereinzelte Antifas die Reise in die oberfränkische Kleinstadt an. Will aber eine antifaschistische Bewegung ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden, können solche Zustände nicht länger hingenommen werden.
Mit dem Ziel, wieder einen breiten Widerstand zu organisieren, entstand im Vorfeld des Heß-Marsches 2004 die Kampagne "NS-Verherrlichung stoppen", die die Aktivitäten für 2004 folgendermaßen einschätzte: "Für dieses Jahr muss es uns darum gehen, in der Region Fuß zu fassen, ein politisches Symbol gegen den Heß-Marsch zu setzen und eine Perspektive für die antifaschistische Arbeit der nächsten Jahre zu eröffnen." Und tatsächlich war der antifaschistische Widerstand zum ersten Mal seit Jahren wieder unübersehbar. Nun gilt es, diese Perspektive weiterhin konkret mit Inhalt zu füllen.
Wir mobilisieren deshalb im südlichen Raum mit einer größer angelegten Kampagne für antifaschistische Aktivitäten gegen den Heß-Aufmarsch 2005. Es geht darum, sich dieser öffentlichen und gerichtlich legitimierten Huldigung des Nationalsozialismus entschlossen entgegen zu stellen und eines der größten regelmäßigen Treffen der europäischen Naziszene längerfristig zu verhindern.
Weitere Infos gibt es auf unserer Übersichtsseite zu Wunsiedel.