Am 17.8.1987 nahm sich Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, inzwischen einziger Insasse des Kriegsverbrechergefängnisses Berlin-Spandau, endlich das Leben. In den Folgejahren veranstalteten Neonazis anlässlich dieses Datums mal größere, mal kleinere Aufmärsche in verschiedenen deutschen Städten und im angrenzenden Ausland, um an den (in Nazidiktion) "Mord" an "Friedensflieger" Heß zu erinnern. Diese Aufmärsche wurden stets von antifaschistischem Protest bedrängt und auch die Staatsgewalt zeichnete sich nicht unbedingt durch Zurückhaltung im Umgang mit den Kameraden aus (so wurden 1994 alle 180 TeilnehmerInnen eines Aufmarsches in Luxemburg verhaftet und durften die Erfahrung einer Abschiebung machen).
Das Augenmerk der deutschen Naziszene richtete sich vor allem auf das oberfränkische Wunsiedel, da Rudolf Heß dort begraben liegt. Bereits im Jahr 1991 war jedoch Schluss mit dem "Gedenken" an Ort und Stelle; ein Demonstrationsverbot verhinderte das NS-apologetische Spektakel. Grundlage dieses Verbots war explizit die unüberschaubare Sicherheitslage, die durch angekündigte antifaschistische Gegenaktivitäten entstehe. Dies wirft einerseits ein grelles Licht auf den bundesdeutschen Umgang mit der NS-Geschichte, da es nicht die offen zur Schau gestellte Verherrlichung des verbrecherischen Regimes ist, die von Staats wegen unterbunden werden soll, sondern die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch AntifaschistInnen, die einen Massenaufmarsch zu Ehren eines glühenden Antisemiten und Kriegsverbrechers als die Zumutung verstehen, die er tatsächlich darstellt. Andererseits wird dadurch auch die Effektivität intensiven antifaschistischen Widerstands dokumentiert.
Die Kehrseite dieser Medaille - dass nämlich eine nachlassende Mobilisierungsfähigkeit, im Behördenjargon also eine geringere Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die Grundlage des gerichtlichen Verbots von 1991 obsolet machen würde - zeigte sich im Jahr 2001. Erstmals durften die Nazis wieder in unmittelbarer Nähe zu Heß’ Grab marschieren, nachdem der bayerische Verwaltungsgerichtshof die Verbotsverfügung der Stadt Wunsiedel aufgehoben hatte, da von dem Aufmarsch selbst keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ausgehe und mit Protest in nennenswertem Umfang nicht (mehr) zu rechnen sei. Seit dieser Entscheidung, auf welche die Antifa-Organisationen kaum vorbereitet waren, nahmen die Heß-Märsche die Verlaufsform, die den Nazis eigen ist: Sie werden mehr, wenn man sie einfach machen lässt, von 900 im Jahre 2001 auf ca. 4.500 im Jahre 2004.
Die Nazis gaben sich dabei stets bieder, bürgernah, seriös: Der "Trauermarsch" war de facto ein Schweigemarsch, dessen TeilnehmerInnen die Anständigkeit und Bürgerlichkeit teils gekonnt, teils mühevoll simulierten, an der es ihnen während der handgreiflichen Auseinandersetzungen mit den wenigen angereisten Antifas im Vorfeld des "Gedenkmarsches" mangelte.
Die antifaschistischen Mobilisierungen verliefen in den Jahren 2001 - 2004 schlecht bzw. fanden teilweise kaum statt. 2004 konnte erstmals wieder eine Anzahl von Antifas nach Wunsiedel mobilisiert werden, die über wenige Dutzend hinaus ging, an eine Verhinderung des Aufmarsches wäre realistisch jedoch nicht zu denken gewesen. Dies erfordert umso mehr eine selbstkritische Auseinandersetzung, als dass die Bedeutung der Heß-Märsche für die Naziszene nicht überschätzt werden kann: nirgendwo sonst kann derart offen einem führenden Repräsentanten des Nationalsozialismus gehuldigt werden, an keinem anderen Ort kann in diesem Maße der Eindruck einer, wenn auch temporären, faschistischen Hegemonie über die Straße erweckt werden, die zur Festigung der eigenen Strukturen erheblich beiträgt und zu keiner anderen Gelegenheit kann ähnlich effektiv eine auch internationale Vernetzung vorangetrieben werden.
2005 ist es erstmals seit der Wiederaufnahme der Heß-Märsche in Wunsiedel gelungen, die antifaschistische Lethargie bezüglich des größten Naziaufmarsches in Europa zu überwinden. Die Kampagne "NS-Verherrlichung stoppen!" konnte bundesweit die Aufmerksamkeit antifaschistischer Strukturen wieder mehr auf das alljährliche nationalsozialistische "Heldengedenken" in Wunsiedel konzentrieren. Eine Arbeitsgemeinschaft antifaschistischer Gruppen, in die auch das Antifaschistische Aktionsbündnis Baden-Württemberg (AABW) maßgeblich eingebunden war, organisierte eine Demonstration, eine Kundgebung mit Vokü und Kulturprogramm sowie dutzende Info- und Mobilisierungsveranstaltungen. Insgesamt konnten ca. 30 Busse mit Antifas nach Wunsiedel gebracht werden, darunter 7 Busse aus Ba-Wü. Durch eine Kooperation mit GenossInnen aus der Schweiz, Österreich, Frankreich und den Niederlanden konnte der Mobilisierung gegen den Heß-Marsch erstmals eine internationale Dimension verliehen werden.
Insgesamt ca. 2.500 Antifas führten am 20.8. eine kraftvolle Demonstration in Wunsiedel durch. Auch den anwesenden Sicherheitskräften, u.a. der bayerischen Spezialeinheit USK, dürfte dabei klar geworden sein, dass ein Aufmarschversuch der Nazis um dem Hamburger Anwalt und Demoanmelder Jürgen Rieger nicht ohne massiven Widerstand - also, wenn man so will, nicht ohne eine "Gefährdung der öffentlichen Ordnung" erheblichen Umfangs - durchzusetzen gewesen wäre. Dass es dazu nicht kam, ist einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes geschuldet, das wenige Tage vor dem geplanten Heß-Marsch ein Verbot aussprach bzw. die städtische Verfügung bestätigte. Hierbei kam der neue § 130 StGB, der die Relativierung und Verherrlichung des NS unter Strafe stellt, zu seiner ersten Anwendung. Das BVG beschränkte das Verbot jedoch explizit auf den Heß-Marsch 2005 und kündigte eine intensive Prüfung des Sachverhalts an, um zu einem späteren Zeitpunkt zu einer generellen Entscheidung zu gelangen. Obwohl die Verhinderung des diesjährigen Naziaufmarsches in Wunsiedel konkret also auf eine Entscheidung des BVG auf Grundlage des § 130 zurückzuführen ist, kann dennoch davon ausgegangen werden, dass das Szenario eines wieder an Stärke gewinnenden antifaschistischen Widerstandes das seine zu der behördlichen Entscheidungsfindung beigetragen hat.
Unabhängig davon ist ein immenser Mobilisierungserfolg am 20.8. gelungen. Den ca. 400 Nazis, die zu einer von der NPD in Nürnberg angemeldeten "Wahlkampfveranstaltung" kamen, stellten sich einige hundert Antifas entgegen; auch in Magdeburg und Berlin, wo inoffizielle Ersatzveranstaltungen für Wunsiedel stattfanden und den Nazis Aufmärsche gelangen, war Protest wahrnehmbar, so dass in diesem Jahr das faschistische "Gedenken" tatsächlich erfolgreich gestört, teilweise sogar gestoppt werden konnte. Durch die kraftvolle internationale Demonstration von ca. 2.500 Antifaschistinnen und Antifaschisten in Wunsiedel wurde eindrucksvoll gezeigt, dass wir eine Verherrlichung des Nationalsozialismus wie in den letzten Jahren nicht kampflos hinnehmen werden.
Das große Medienecho im Vorfeld des Heß-Marsches ist neben dem Interesse am Testfall des neuen §130 auch der öffentlichkeitswirksamen Lancierung antifaschistischer Inhalte durch die bundesweite Kampagne "NS-Verherrlichung stoppen!" zuzuschreiben. Das Schweigen der Medien nach der Zersplitterung der neonazistischen Großdemonstration in kleine Regionaldemonstrationen ist bezeichnend für das Nichterkennen der faschistischen Gefahr.
Die zweite Großveranstaltung des Tages neben der linksradikalen Kampagnendemonstration war die Kundgebung der Wunsiedler BürgerInneninitiative "Bunt statt Braun", die sich bereits seit 2001 im lokalen Rahmen gegen den faschistischen Aufmarsch engagiert. Diese Bemühungen sind an sich, trotz ihrer notwendigen inhaltlichen und praktischen Einschränkungen, begrüßenswert, zumal in Anbetracht der bayerischen Verhältnisse. So zeigten sich sowohl BürgerInneninitiative als auch Stadtverwaltung im Vorfeld des 20.8. relativ kooperativ gegenüber der Kampagne "NS-Verherrlichung stoppen!". Am Tag des Spektakels selbst jedoch war dann doch nur das übliche Procedere zu bestaunen: Während der eine Teil der RednerInnen zwar voll lobender Worte für das antifaschistische Engagement des lokalen Bündnisses, von Kleingärtnerverein bis Ministrantenchor, war, die doch recht übersichtliche "Meile der Demokratie" zum letzten Schrei des Widerstands erklärte und die Anwesenheit von über 2.000 angereisten Antifas schlicht ignorierte, rekurrierte der andere Teil auf das Allzweckmittel zur Aufpolierung bürgerlichen Selbstverständnisses, die Totalitarismustheorie. So wurden wie gehabt die Linken mit den Rechten gleichgesetzt; der "Tag der Demokratie" geriet zum Fanal gegen "politischen Extremismus", als hätte der Verfassungsschutz die Redebeiträge redigiert. Diese Gleichsetzung ist nicht nur dumm und falsch, sie spiegelt auch eine gefährliche Verkennung der Gefahr der nationalsozialistischen Ideologie wider. Die Beantwortung der Frage, welche Form des Protestes letztlich den Ausschlag geben wird über den Erfolg künftiger Versuche, den Heß-Marsch in Wunsiedel endgültig ins Jenseits zu befördern, sei an dieser Stelle der individuellen Reflexion anheim gestellt. Fest steht jedoch: Wunsiedel ist ein CSU-Kaff in der Fichtelgebirgspampa und kein Hort des Antifaschismus.
Nun bemisst sich der Erfolg antifaschistischer Politik selbstredend nicht an der Sympathie, die in einer bayerischen Gemeinde vom Schlage eines Städtchens wie Wunsiedel zu erzielen ist. Dennoch bleibt für künftige Kampagnen die Notwendigkeit festzuhalten, das Verhältnis zu lokalpatriotischen Bündnissen erneut zu überdenken und die Frage zu stellen, ob es sinnvoll ist, wiederholt Offenheit gegenüber einer Initiative zu signalisieren und deren positiven Charakter herauszustellen, wenn man selbst nur die Betitelung als "Extremist" zu erwarten hat.
Derzeit ist davon auszugehen, dass die faschistischen Strukturen um den Hamburger Jürgen Rieger versuchen werden, ihr Aufmarschrecht in einer Auseinandersetzung vor dem Bundesverfassungsgericht zu erstreiten. Der Heß-Marsch in Wunsiedel war in den letzten Jahren die größte Naziveranstaltung mit dem höchsten Symbolwert; ein kampfloser Verzicht auf dieses Happening von rechter Seite ist kaum anzunehmen. Offen ist allein der Ausgang eines solchen Verfahrens. Im Falle einer juristischen Niederlage Riegers wäre eine Wiederholung der Verhältnisse der 90er ein wahrscheinliches Szenario, als die Nazis verstreut über die BRD und andere Länder Aufmärsche mit wenigen hundert TeilnehmerInnen organisierten und Antifas mit äußerst kurzen Organisierungs- und Mobilisierungszeiten konfrontiert waren und versuchten, den Nazis so schnell wie möglich hinterherzufahren. Im Falle eines gerichtlichen Erfolges für Rieger stiege die Notwendigkeit umso mehr, den diesjährigen Mobilisierungserfolg zu wiederholen und möglichst noch zu steigern. Mit den zwei vollbesetzten Bussen, die aus Freiburg nach Wunsiedel fuhren, wurde aus unserer Sicht ein beachtlicher und vielversprechender Grundstein hierfür gelegt.
NS-Verherrlichung stoppen!
Kein Fußbreit dem Faschismus!
Antifa Freiburg