Der vom Gang der Geschichte erzwungene neue kategorische Imperativ, „Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ (Adorno), beinhaltet die Forderung nach Abschaffung der Verhältnisse, die Auschwitz nicht nur möglich machten, sondern selbst zur Barbarei treiben. Doch ungebrochen kann der Kampf gegen „alle Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx) nicht mehr geführt werden. Die Revolution ist vorerst gescheitert und fordert die Selbstreflexion darüber, wie man selbst noch in die Verhältnisse verstrickt war und ist, die zu Auschwitz führten. Im Zentrum der Kritik hat dabei der Antisemitismus in allen Formen zu stehen. Aus Solidarität mit den Opfern, aber auch weil Antisemitismus Ausdruck eines „Antikapitalismus“ ist, der nicht auf Befreiung sondern auf Pogrom hinausläuft. Die Mehrheit der Linken war und ist dazu bestenfalls nicht in der Lage, wenn sie nicht selbst schlicht antisemitisch war und ist. Skandalöses Beispiel ist der weit verbreitete, sich „antinationalistisch“, „antirassistisch“, „antiimperialistisch“ oder gar „antifaschistisch“ gebende Hass auf Israel, verbunden mit unverhohlener Sympathie mit offen antisemitischen TerroristInnen. Das inzwischen völlig untragbare Palituch ist hier nur ein Anzeichen dafür, dass Linke mit IslamistInnen und Nazis oft einiges gemein haben, entsprechend trifft man sich auch immer wieder mal auf der selben Demo oder Konferenz und schmiedet Querfrontstrategien.
Israel ist als jüdischer Staat und möglicher Zufluchtsort aller weltweit antisemitisch Verfolgten unbedingt zu verteidigen. Nicht nur aus moralischer Verpflichtung, sondern auch als Konsequenz und eben nicht als Widerspruch zu einer Kritik an einer den Antisemitismus hervorbringenden kapitalistisch und nationalstaatlich verfassten Welt. Dass Israel nur die Notlösung der AntisemitInnenfrage sein kann, und dass seine Verteidigung nur Ausgangspunkt und Mindestbedingung politischer Praxis sein kann, ist ebenso wahr wie banal. Die unter den gegebenen Bedingungen gelungene jüdische „Autoemanzipation“ (Leo Pinsker, 1882) durch den Zionismus war und ist nicht ohne Emanzipationsgewalt zu erreichen, über die es keiner Illusionen bedarf. Die ZionistInnen haben mit ihrem Misstrauen gegenüber ihrer nichtjüdischen Umwelt und bürgerlichen wie kommunistischen Emanzipationsversprechen bis heute auf schreckliche Weise Recht behalten. Dies sollte bedenken, wer heute meint, den sich noch immer im Belagerungs- und Ausnahmezustand befindenden jüdischen Staat mit Völkerrecht und wohlfeilem Universalismus kritisieren oder maßregeln zu wollen. Und es auch eingedenk der eigenen Machtlosigkeit lieber mit dem vielleicht bewusstlosen, doch zweifellos praktischen Antifaschismus eines Ariel Sharon halten: „Wer immer Juden und israelische Bürger tötet, wer immer die Ermordung von Juden als Juden befiehlt und organisiert, ist des Todes.“ Dies ist nun freilich eine andere „Lehre aus der Vergangenheit“ als die deutsche, die aus den eigenen Taten neue Verantwortung ableitet und sich zwanghaft gegen die Opfern von gestern als angebliche Täter von heute wendet.
Solidarität mit Israel bedeutet nicht, das Leiden und die Ansprüche der PalästinenserInnen zu ignorieren. Doch die „Al-Aqsa Intifada“ ist nicht der berechtigte Kampf um Anerkennung und gegen unhaltbare Verhältnisse, als der die erste Intifada sich trotz allem hätte erweisen können. Der von allen relevanten Gruppen arbeitsteilig geführte völkische, antisemitische und islamistische Terrorkrieg gegen Israel fordert seine Opfer nicht nur in Israel, sondern auch in den palästinensischen Gebieten selbst: Islamistischer Tugendterror, Verfolgung und Ermordung von Homosexuellen, „Kollaborateuren“, „Prostituierten“ und „Verrätern“ sind fester Teil des „nationalen Befreiungskampfes“ und bieten zudem einen Ausblick darauf, was einer „Befreiung“ folgen würde.
Die andauernde und nur durch effektive israelische Verteidigungsmaßnahmen eingedämmte Welle an Selbstmordattentaten, die wahllose Ermordung und möglichst grausame Verstümmelung von Jüdinnen und Juden dient in der internationalen Wahrnehmung letztlich als Argument gegen Israel: Wie sehr muss jemand leiden, wie verzweifelt sein, um zu solchen Taten bereit zu sein? Grenzenlos ist die Bereitschaft zur Rationalisierung der Motive wie zur Einfühlung in die TäterInnen. Wenn sich wie in Ramallah die halbe Stadt zum Lynchmord zusammenfindet, wenn wie in Gaza die Leichenteile toter israelischer Soldaten wie Trophäen herumgereicht werden und jede Mörderin zur Nationalheldin, jeder Tote zum gefeierten Märtyrer wird und bereits die Kinder im offiziellen palästinensischen Fernsehen auf den Tod für Gott, Volk und Vaterland eingeschworen werden, so ruft dies noch lange keine Zweifel an der palästinensischen Friedensbereitschaft oder am Zustand dieser „Gesellschaft“ hervor. Wenn, wie bei einer Gemeinschaftsaktion von Arafats Fatah und dem Islamischen Jihad am 2. Mai 2004 geschehen, eine schwangere Frau und ihre vier Kinder im Alter von 2 bis 11 Jahren gezielt und aus nächster Nähe hingerichtet werden, reicht der Hinweis, es habe sich um „Siedler“ gehandelt, zur Erklärung völlig aus. Eine Siedlung freilich ist in den Augen seiner Feinde ganz Israel. Auf einen Mangel an Informationen kann die überall spürbare antiisraelische Stimmung jedenfalls nicht allein zurückgeführt werden: Motive und Ziele des Krieges gegen Israel werden nicht falsch, sondern oft nur allzu gut verstanden. Es sind nicht nur die PalästinenserInnen, und es geht nicht nur gegen Israel. Begleitet wird die Intifada von einem weltweiten Anstieg antisemitischer Vorfälle, die oft als „Israelkritik“ rationalisiert und verharmlost werden. „Tod den jüdischen Mördern in Israel!“ war auf dem Auschwitz-Denkmal in Dresden zu lesen, und niemand vermag sicher zu sagen, wer dafür verantwortlich war: Nazis oder linke AntiimperialistInnen, empörte BürgerInnen oder migrantische Jugendliche. Zudem ist die Intifada Teil einer globalen islamistischen Offensive, für die Israel keineswegs der Grund, sondern lediglich die vorderste Front darstellt, und die auch in New York, Istanbul oder Madrid ihre Ziele findet. Der islamisch oder arabisch geprägte Antisemitismus und Antizionismus ist dabei nicht nur die Sache einiger desperater ExtremistInnen, sondern verfügt über eine breite Massenbasis und ist in vielen Ländern staatliche Politik. „Die Europäer ermordeten 6 von 12 Millionen Juden, doch heute beherrschen die Juden die Welt [...] 1,3 Milliarden Moslems können nicht von ein paar Millionen Juden besiegt werden. Es muss einen Weg geben“, drohte der damalige malaysische Premier Mahathir Mahamad 2003 auf einer islamischen Gipfelkonferenz vor VertreterInnen aus 57 Staaten, und erntete dafür Standing Ovations. Ernsthafte Kritik war daraufhin einzig aus den USA zu hören. Die „Weltgemeinschaft“ ist erneut dabei, beim Judenmord wegzusehen oder mitzumachen. Notorische ist die Weigerung der UN, Antisemitismus und palästinensischen Terror zu verurteilen, während Israel wie kein anderer Staat angeklagt und als globales Feindbild und Projektionsfläche für alle Übel dieser Welt zum „Juden“ unter den Staaten gemacht wird. Selbst die Unterstützung der USA ist Israel keineswegs sicher, geraten diese doch selbst immer stärker unter Druck, während Deutsch-Europa im Zuge einer neuen Blockkonfrontation als „Friedensmacht“ auftritt, tatsächlich aber immer offener Partei für die Feinde der USA und Israels ergreift.
Die Linke ist „zur Einsicht verpflichtet in die tragische Schwäche des jüdischen Staates und jedes einzelnen Juden in der Diaspora“ schrieb Jean Améry 1969 in einer für Israel und alle Jüdinnen und Juden weit weniger bedrohlichen Situation. Dies alles mag katastrophisch klingen, aber muss Kritik heute nicht genau das leisten: Denken der dieser Gesellschaft innewohnenden Katastrophen? Und gibt es auch nur eine Entschuldigung dafür, die Gefahren des Antisemitismus zu ignorieren? „Niemand garantiert nichts. Das ist keine paranoide Phantasie und ist mehr als die menschliche Grundverfassung der Gefahr. Die Vergangenheit, die allerjüngste brennt.“
Eine neutrale oder unschuldige Haltung gegenüber dem zunehmenden Antisemitismus und Israel gibt es nicht. Das mindeste wäre, alles zu unterlassen, was dem vorherrschenden und praktisch-politisch wirkenden antiisraelischem Konsens entgegenkommt, geboten ist, ihm und sämtlichem Antisemitismus mit allen Mitteln entgegenzutreten. Diese Veranstaltungsreihe soll ein Beitrag dazu sein.
Bündnis gegen Antisemitismus und Israelfeindschaft, Juni 2004